Bis zum Jahr 2000 verließen im Saldo etwa 611 000 Personen den Osten in Richtung Westdeutschland. In den folgenden zehn Jahren bis 2010 wanderten im Saldo noch rund 553 000 Menschen von Ost nach West.
Immer wenn vom Rechtsruck in Ostdeutschland gesprochen wird, geht mir dieser Gedanke um: Sind zu viele der weltoffenen Mitbürger gen Westen abgewandert?
Zu mir:
Ich bin selbst Teil dieser Auswanderer. Für mich ging es dabei allerdings weniger um wirtschaftliches Glück, als die Liebe und Abstand von meiner “lieben Familie”. Und trotzdem fühle ich mich mitschuldig. Hätte ich einen Rostocker statt Badener kennen gelernt, würde ich dort dann gegen rechts kämpfen?!
Sind die Ostauswanderer Mitschuld am Rechtsruck in Ostdeutschland?
Nein, die Nazi-Ossis sind ganz alleine für ihre Einstellung verantwortlich.
Du klingst eigentlich genau wie die Rechten die nach einem Sündenbock für ihre Misere suchen. Du machst halt diese Leute zum Sündenbock. Und ignorierst dafür alles was du durch Psychologie und Neurologie über das Wesen des Menschen hättest lernen können.
Was besonders schade ist weil es dich davon abhält, eine gesellschaftliche Lösung zu suchen.
Sind sie das denn? Ist zB jemand, der in einem Nazi-Unfeld aufgewachsen ist und kaum ein anderes Weltbild vermittelt hat, genauso für seine Ansichten verantwortlich, wie jemand, der in einer offeneren Gesellschaft aufgewachsen und trotzdem diese Einstellungen entwickelt hat? Ist es Zufall, dass solche Ansichten in bestimmten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen eher gedeihen als in anderen?
Natürlich steckt da auch immer ein sehr großer Teil Eigenverantwortung mit drin, aber ich denke tatsächlich, dass man das auf beiden Seiten nicht verabsolutisieren und auch anerkennen sollte, dass das Problem z.T. auch eine strukturelle Komponente hat, die struktureller Lösungen bedarf.
Wäre ja auch irgendwie komisch wenn, Abwanderung mit eingerechnet, es sich nur ganz zufällig sich so begeben hätte, dass in bestimmten Gebieten sich große Anteile alle ganz unabhäbgig von einander und in kompletter Eigenverantwortung für eine Sichtweise entschieden hätten, in anderen aber nicht.
Sind sie das denn? Ist zB jemand, der in einem Nazi-Unfeld aufgewachsen ist und kaum ein anderes Weltbild vermittelt hat, genauso für seine Ansichten verantwortlich, wie jemand, der in einer offeneren Gesellschaft aufgewachsen und trotzdem diese Einstellungen entwickelt hat?
Die DDR existiert nicht mehr. Im Osten haben die Bürger dieselben Möglichkeiten auf Informationen zuzugreifen wie in Westdeutschland. Wenn die sich dazu entscheiden Wissenschaft abzulehnen und Schwurbellei über Ausländer, Impfungen usw. zu glauben, dann ist das deren eigene Verantwortung.
Warum sollen bei allem, was im Osten schief läuft, immer die anderen Schuld sein? Entweder sind die Ausländer Schuld, die bösen Wessis oder jetzt ganz neu die Ostauswanderer?
Ich habe AfD-Wähler in der Familie. Wenn sie argumentieren, höre ich vor Allem Angst ihren Wohlstand wieder zu verlieren. Im Falle meiner Familie ist es vermutlich ihr Immobilieneigentum. Mein Vater ist ganz versessen darauf Land zu besitzen. Die Enteignung der DDR-Bürger durch den Staat wirkt da vermutlich nach. Bestimmt findet man noch viel mehr Zusammenhängende zwischen den Trauma aus der DDR-Vergangenheit und der heutigen Situation. Zum Thema Stasi-Trauma gibt es in meiner Familie wortwörtlich stapelweise Akten… Misstrauen gegenüber dem Staat und Digitalisierung sind sofort nachvollziehbar. Unsere Politik adressiert diese Themen nicht. Und die DDR-geborenen Ostdeutschen, die ich kenne, misstrauen Psychotherapeuten total.
Ich meine wirtschaftlich gesehen wird der Osten wie ein Deutschland Zweiter Klasse behandelt. Erst durch die Besetzung und Kontrolle der Sowjetunion wirtschaftlich abgehangen und dann wurden bei der Eingliederung zahlreiche Unternehmen und Immobilien über die Treuhand zum Westen verkauft. Zur Veranschaulichung: Nenn mir bitte ein DAX Unternehmen mit Hauptsitz im Osten.
Also hier würde ich sagen war die “gute” CDU mit Helmut Kohl nicht ganz unschuldig war. Die Wiedereingliederung ist wirtschaftlich nach hinten gegangen und es gibt heute noch Unternehmen die im Osten produzieren weil sie mit Lohn dumping davon kommen. Nicht zu vergessen das wenn du kein Grundstück Besitz dein Vermieter in über 3 von 5 Fällen kein ostdeutscher ist bzw. ostdeutsches Unternehmen.
Natürlich es ist totaler Unsinn dann die Schuld bei den Ausländern und anderen zu suchen, aber scheinbar einfacher als sich selbst an die Nase zu greifen und sich nach einer Partei umzusehen die tatsächlich der Bürgerlichen Mitte helfen will. Da werden lieber die populistischen Aussagen 1:1 geglaubt. Und alle die das Gegenteil behaupten werden angezweifelt.
Zumal ist mir aufgefallen das viele meiner ehemaligen Mitschüler die nicht abgereist sind, oft ihren Unternehmen treu geblieben sind, obwohl sich das Gehalt nur wenig gebessert hat. Es wird immer über den Chef gemeckert aber man hat Angst sich woanders zu bewerben oder einfach ne Gehaltsverhandlung zu führen. Scheinbar ist es einfacher in Gruppen auf rechte Demos zu gehen als sich allein in einem Raum mit den Chef zu befinden.
Das in der DDR den Informationen idR nicht zu trauen war, ist hier vollkommen irrelevant? Oder müsste man ab 89 sofort den Westmedien voll und ganz vertrauen? Gleiches für die Regierungs- bzw Staatshörigkeit. Das war in der DDR ja eher von Misstrauen begleitet. Nach deiner Sicht, kann sich jeder Mensch sofort bewusst umprogrammieren - Erfahrungen und Geschichte ausradierend. Zack neuer Mensch. Freier Wille und eigene Verantwortung.
Ist eigentlich nicht so komisch wenn man darüber nachdenkt. Einigen geht es dreckig und sie treffen Maßnahmen was dagegen zu tun, z.B. Abwanderung in Gebiete wo die Chancen besser sind. Anderen geht es genau so dreckig und sie fantasieren sich irgendwelche tollen Vergangenheiten zusammen in denen alles besser war und irgendwelche imaginären Feinde die an ihrem Schicksal schuld sind. Es ist kein Zufall dass solche Ansichten immer unter Konservativen auftauchen und nicht unter Leuten die offen für Veränderungen sind und pro-aktiv versuchen ihre eigenen Probleme zu lösen.
Dazu möchte ich mich äussern. Vorweg: ich will kein Mitleid und kein “boah, toll gemacht”.
Mein Vater ist ein Nazi und Fascho. War er immer schon, es ist allerdings über die Jahre schlimmer geworden.
Er hat mir natürlich sein Weltbild anerzogen. Ich war nie ein “vergast die Ausländer”-Nazi, aber ich hatte schon ein Problem mit Ausländern, mit Feminismus und vielen anderen progressiven Themen. Ich habe viele Rassismen und Vorurteile internalisiert, oft auch ohne mir darüber bewusst zu sein. Und das, obwohl ich natürlich als im Westen lebender Gymnasiast und später Student durchaus immer wieder progressiven Themen ausgesetzt war. Zwar auf dem Land, aber halt trotzdem Bildungsbürgertum.
Aber bis Mitte 20 habe ich das halt auch nicht wirklich hinterfragt. Erst da habe ich damit angefangen. Und nach und nach, Stückchen für Stückchen, hat das angefangen zu bröckeln. Es hat Jahre gedauert, mich davon freizumachen. Ein Schlüsselerlebnis hatte ich in der Schweiz, dort habe ich Rassismus am eigenen Leib erfahren, und da habe ich überhaupt erstmal verstanden, was Rassismus eigentlich ist, und das hat mir dann den Anstoss gegeben mich näher mit dem Thema zu beschäftigen.
Heute bin ich ziemlich links, mein Alter würde mich als linksradikal bezeichnen. Am 1. Januar 2023 hab ich den Kontakt zu ihm abgebrochen.
Was ich damit sagen will: na klar ist das möglich, sich von rechter Erziehung freizumachen. Aber das ist fucking schwer. Ich stamme aus einer bildungsbürgerlichen Beamtenfamilie (meine Elten sind beide Lehrer, mein Vater kommt vom Hof, meine Mutter kommt aus einer Beamtenfamilie), die Familie mütterlicherseits hatte immer schon Probleme mit meinem Vater. Und trotzdem hat es so lange gedauert.
Meine Eltern waren ausgesprochen autoritär, ich hab von meinem Alten regelmäßig mit einer Weidenrute oder einem Knüppel Prügel bezogen. Meine Mutter hat sich da auch nicht zurück gehalten, die hat immer einen Kleiderbügel benutzt.
Da kommt man nicht auf die Idee, irgendwas zu hinterfragen. Egal, wie oft man gegenteiligem ausgesetzt wird. Und das gar nicht mal aus Angst, sondern weil man es einfach gewohnt ist hinzunehmen, was die Eltern einem sagen.
Allerdings kann man Menschen auch nicht aus ihrer Verantwortung entbinden. Natürlich war ich immer für mich selbst verantwortlich.
Aber ich kann mir auch vorstellen, dass für viele zu viel Eigenleistung notwendig ist, als dass sie das schaffen können.
Und ich hab echt keine Ahnung, wie man das Problem lösen kann.
Edit: meh. Jetzt hab ich ein bisschen ein schlechtes Gefühl, diesen Striptease hingelegt zu haben. Ich lass es trotzdem stehen.
Gratulation zur Abnabelung, dem Ausstieg und dem Kontaktabbruch. Du kannst sehr stolz auf dich sein! Ich bin es auf jeden Fall! clap
Es gibt ein soziologisches Model das das Ganze ganz gut beschreibt, komme aber gerade nicht auf den Name.
Nennt sich Braindrain. Junge, gut ausgebildete Erwachsene ziehen wohin wo sie bessere wirtschaftliche Aussichten haben. Je nachdem wo sie herkommen können auch politische Probleme und der Mangel an Sozialsystemen ausschlaggebend sein.
Das Phänomen stellt ein großes Problem für die Herkunft dar, weil volkswirtschaftlich die Leute gerade dann, nachdem das Land viel Geld in ihr Aufwachsen und ihre Ausbildung gesteckt hat, wegziehen, wenn sie zu Zahlern werden würden welche GDP und Steuereinnahmen steigern.
Das ganze gibt es international, wo Deutschland ein riesiger Nutznießer ist, aber auch national, so wie von Ost- nach Westdeutschland oder von roten US-Bundesstaaten zu blauen.
Man kann es den einzelnen aber auch nicht übel nehmen, weil sie halt für sich selber nach einer besseren Zukunft streben. Es ist ein schwieriges Problem welches keine einfachen Lösungen hat
Nee, das ist viel allgemeiner: jeder Mensch hat einen gewissen Grenzwert der Toleranz gegenüber Umständen in seiner Umgebung bis die Person sich entscheidet wegzuziehen (vereinfacht jetzt mal den ökonomischen Zustand kurz ausgeklammert). Wenn die Person dann wegzieht, verändert es oft den Grenzwert auf den Bezug für diesen Umstand für andere was zu einer Segregation nach bestimmten Merkmalen führt.
Vereinfacht gesagt: desto mehr liberale Menschen aus dem Osten wegziehen weil die sich da unwohl fühlen, desto mehr fühlen sich die übrig geblieben liberalen Menschen im Osten unwohl.
Mal gerade die politischen Ansichten der Leute zu Regierungsformen ausgeklammert ist es aber auch so dass Konservative (im traditionellen Sinne des Wortes; Leute die keine Veränderungen mögen) einfach die sind die übrig bleiben wenn eine Gegend unattraktiv wird und die Leute weg ziehen und dadurch allein schon eine Spirale nach unten bei der Attraktivität von allen Lebens-Aspekten entsteht weil die sich am wenigsten eingestehen dass es so nicht weiter gehen kann.
Aus größerer Flughöhe betrachtet: Ja. Wären mehr weltoffene Menschen im Osten geblieben hätten die Nazis sich nicht so etablieren können. Gleichzeitig bin ich überzeugt, die ursprüngliche Schuld tragen andere. Hätten die Menschen vor Ort Perspektiven gehabt wären sie nicht gegangen, denke ich. Je mehr ich über die Treuhand und die Abwicklung der DDR lese, desto mehr bin ich überzeugt, dass kurzfristige Gewinngier uns langfristig geschadet hat.
Die frühen 90ger waren wahrscheinlich eines der ungünstigsten Jahrzehnte der letzten 100 Jahre für die Wiedervereinigung.
Der ganze neoliberale Reaganism und Thatcherism hatte gerade (West)deutschland erreicht und sich dran gemacht, die dort gewachsenen Strukturen der sozialen Marktwirtschaft zu zerstören.
Die DDR ist mit dem Eintritt in die BRD von einer halbwegs funktionierenden (für die Mehrheit haltgebenden und versorgenden) autoritären sozialistischen Organisationsstruktur mitten in diese existentiell bedrohliche Krise geschlittert.
Wenn sie gekonnt hätte, hätten Honecker und seine Freunde das mit der DDR bestimmt gerne noch ein paar Jahre/Jahrzehnte/… länger gemacht…
Es gibt vielleicht Gründe warum Menschen im Osten besonders unzufrieden sind, aber dafür deshalb Nazi zu werden ist niemand verantwortlich außer die Nazis selbst. Und Menschen die kein Bock haben umgeben von Nazis zu sein kann man es auch nicht verübeln da abzuhauen. Sonst könnte man genauso gut Wessis die Schuld geben, weil die kein Bock haben da hin zu ziehen.
Ich habe schon sehr viele Ostdeutsche kennen gelernt, denen jede Form von rechtsradikalem Denken völlig fremd ist. Die waren aber alle im Westen. Ich denke, dass da schon was dran ist