Der Klimaaktivist Raúl Semmler ist vom Mannheimer Amtsgericht wegen der Teilnahme an zwei letztjährigen Verkehrsblockaden verurteilt worden. Die Verteidigung wollte einen Freispruch
13.09.23 von Waltraud Kisch-Mayer
Raúl Semmler ist bekennender Aktivist der „Letzten Generation“. Wegen Nötigung in Zusammenhang mit zwei Straßenblockaden - auf dem Luisenring und der Wilhelm-Varnholt-Allee - ist er einschließlich eines auswärtigen Strafbefehls vor dem Mannheimer Amtsgericht zu einer Gesamtstrafe von 150 Tagessätzen zu jeweils 13 Euro verurteilt worden. Wie die Richterin ihre Entscheidung begründet, bekommt der 41-Jährige allerdings nicht mit - er hatte vorab dem Gericht mitgeteilt, dass er verreist ist.
Angeklagter ist verreist
Und so beginnt auch der zweite Verhandlungstag mit Disput. Der abwesende Angeklagte wirft der Richterin in einem Schreiben Befangenheit vor, weil diese den Fortsetzungstermin nicht mit ihm abgesprochen habe. Der 12. September sei sehr wohl mit anderen möglichen Terminen während der Hauptverhandlung diskutiert worden, kontert Amtsrichterin Gerhards und spricht von einem „nicht entschuldigten“ Wegbleiben. Eigentlich möchte der Verteidiger durchsetzen, dass die drei zu den Straßenblockaden gehörten Zeuginnen - zwei Kripobeamtinnen und eine Autofahrerin - noch ein weiteres Mal geladen werden, damit sein Mandant diese direkt befragen könne. Die Richterin legt in einem Beschluss fest, dass der bevollmächtigte Anwalt das Fragerecht des Angeklagten übernehmen soll.
Wie beim Prozessauftakt vor zweieinhalb Wochen geht es erneut darum, die mit langen Rückstaus verbundenen Straßenblockaden am 23. Mai 2022 auf dem Luisenring (Höhe Quadrat G7) sowie wenig später am 13. Juni auf der Varnholt-Allee in Nachbarschaft des Planetariums auszuleuchten. Bei beiden Aktionen hatten sich vier beziehungsweise fünf Klimaaktivisten mit jeweils einer Hand auf der Fahrbahn festgeklebt und mit Bannern wie „Stoppt den fossilen Wahnsinn“ auf ihr Anliegen aufmerksam gemacht.
Dass jeweils einer der Protestierer nicht zum Sekundenkleber gegriffen hatte, spielte in der Beweisaufnahme eine zentrale Rolle: Hätte durch das Wegtragen des nicht festgeklebten Mannes eine Lücke zum Ableiten des Verkehrs geschaffen werden können? Allerdings geben die befragten Einsatzkräfte an, dass solch eine schmale Durchfahrt im damaligen Chaos viel zu gefährlich gewesen wäre - auch für die noch sitzenden Demonstranten.
Vorwürfe durch Zeugenaussagen, Fotos und Videos belegt
Eigentlich möchte die Verteidigung zum Abrunden der Beweisaufnahmen zusätzlich zwei Gutachten von Protestforschern beziehungsweise Soziologen. Das Gericht befindet, dass in den angeklagten Fällen solcherart Sachverständige nicht erforderlich seien. In ihrem Schlussvortrag sieht Staatsanwältin Reichardt die zur Last gelegten Vorwürfe in Zusammenhang mit den beiden Verkehrsblockaden sowohl durch Zeugenaussagen wie Fotos und Videos belegt - auch wenn Raúl Semmler kein eindeutiges Geständnis abgelegt, sondern stattdessen eine Erklärung zu Klimakampagnen als „Akt der Notwehr“ vorgetragen hat.
Die Strafverfolgerin geht von tateinheitlicher Nötigung in 32 und 26 Fällen aus - denn so viele Verkehrsteilnehmer hatten auf Nachfrage der Polizei reagiert und angegeben, zwischen einer halben und weit über einer Stunde zu spät zur Arbeit oder einem wichtigen Termin gekommen zu sein. Die Staatsanwältin hebt hervor, dass Semmler gemeinsam mit gesondert verfolgten Klimaaktivisten für die Blockaden gezielt Hauptverkehrsadern in der Stoßzeit ausgesucht habe.
Selbst ein Rettungsfahrzeug sowie ein Bus blieben im Stau stecken. Autofahrer, so die Staatsanwältin, seien „der falsche Adressat“ für Klimakampagnen. Es wäre eine „Bankrotterklärung der Demokratie“, wenn Straftaten mit Polit-Anliegen legitimiert werden könnten. Die Staatsanwältin hält 175 Tagessätze zu jeweils 13 Euro als Gesamtstrafe für angemessen - wobei die vom Amtsgericht Erding verhängte rechtskräftige Geldstrafe einbezogen ist.
Auf Freispruch plädiert Verteidiger Christian Mertens. Die alle Menschen betreffende Brisanz des Klimawandels fordere zu zivilen Ungehorsam heraus, argumentiert der Anwalt und erklärt, dass aufgrund spektakulärer Aktionen der „ Letzten Generation“ 64 Mal so häufig Medienberichte über die tickende Zeitbombe erschienen seien. Angesichts der Klimabedrohung seien Verkehrsblockaden „sozial verträglich“ und keineswegs verwerflich.
Falsche Adressaten ausgewählt
Auch wenn die Klimakrise Fakt sei, so Richterin Gerhards, rechtfertige diese keine Nötigung. Im Miteinander gelte es, die Rechtsgüter aller zu schützen. Wie die Staatsanwältin sieht auch die Amtsrichterin zufällig ausgewählte Menschen, die auf der Straße unterwegs sind, als falsche Adressaten solcher Aktionen. Zugunsten des Angeklagten nennt sie, dass dieser nicht aus Eigennutz handelte. Allerdings wertet die Richterin dessen Verhalten im Strafprozess als „grenzüberschreitend“ - beispielsweise, als Raúl Semmler einem als Zeugen befragten Polizisten anmaßend riet, eine Rechtsfortbildung zu absolvieren. Von den insgesamt 150 verhängten Tagessätzen, die wegen des geringen Einkommens von monatlich um die 400 Euro auf lediglich 13 Euro festgelegt wurden, beziehen sich 80 auf Semmlers Teilnahme an den beiden Mannheimer Blockaden. Die Vorwürfe wegen Sachbeschädigung durch wildes Plakatieren sind eingestellt worden.
Im Miteinander gelte es, die Rechtsgüter aller zu schützen.
Wo war denn die Rechtsgüterabwägung, als Städte zugunsten des Vororte deurbanisiert wurden? Wie kann man ernsthaft der Meinung sein, dass es das Ergebnis einer Rechtsgüterabwägung sein könnte, den Verkehr zugunsten von schädlichen Verkehrsträgern hin zu optimieren?
Sorry, ich steck grade wirklich tief in der Arbeit drin und finde eine ganz bestimmte Quelle nicht mehr, die Urbanität schön historisch abgearbeitet hat.
Ich geb dir stattdessen einen stichpunktartigen Outline meiner Gedanken, die darauf aufbauen:
- Stadt ist nicht etwas, das einfach entsteht, sondern etwas, das gemacht wird (auch Nichtregulierung ist die Entscheidung für eine Machart)
- Städtigkeit ist daher kein objektiver, sondern stets ein normativer Begriff, dem ein Ideal, eine Designphilosophie bzw. ein Gesellschaftsbild zugrunde liegt
- Städte sind im letzten Jahrhundert aus vierlei Gründen (Konsumförderung (Auto, Rasenmäher, Waschmaschine), Rassismus (Segregation), Konservatismus (Atomisierung der Familie und Verbürgerlichung durch Hausbesitz)) suburbanisiert worden und weil Menschen zusätzlich angefangen haben, den “Traum vom Eigenheim” zu träumen (u.a. wegen der Fehlidentifikation der Korrelation Reichtum~Eigenheim+Auto)
- Suburbanisierung und Motorisierung sind eng zusammenhängende Phänomene, weil low-density dwelling ÖPNV untragbar macht
- Motorisierung und Entstädterung sind eng zusammenhängende Phänomene, weil MIV der Stadt den Raum für genuin Städtisches (menschliche Interaktion) wegnimmt und mit Kosten belastet, die ihre Ursache im Vorort und auf dem Land haben (Lärm, Dreck, Verkehr)
- diese Ausrichtung der “innerstädtischen” Infrastruktur auf die Bedürfnisse des Suburbanen bezeichne ich als Deurbanisierung, weil sie die Stadt vom Ideal einer gedachten Idealstadt entfernt, die Autoverkehr auf ein Minimum reduziert hat und stattdessen alltägliche Wege fußläufig erreichbar macht und zusätzlich begrünt statt asphaltiert ist
- die Deurbanisierung der Städte führt zu Migration aus den Städten in die Vororte und Peripherie
- Auswärtsmigration führt zu Motorisierung
- Motorisierung führ zur Deurbanisierung
- Deurbanisierung führt zur Auswärtsmigration